Impfgegner finden, die Masern/Mumps/Röteln-Impfung verursache massive Impfschäden. Und Impfungen nützten eh nichts. All dies trotz der wissenschaftlichen Fakten: Die Kinderkrankheiten können bei empfindlicheren Personen fatale Folgen haben. Die Impfungen führen weitaus seltener zur irgendwelchen Komplikationen. Es ist gut, wenn diese Krankheiten verschwinden. Aber die Impfgegner sehen lieber, dass manche Personen an Masernkomplikationen sterben oder Behinderungen davontragen, als dass sie selbst einen Pieks in den Arm ertragen müssen. Chemtrails-Verschwörer glauben, geheime staatliche Organisationen fügten den weissen Ausstössen von Flugzeugen gefährliche, gehirnmanipulierende Substanzen bei. Das könnte man fast meinen, denn es gibt immer mehr Verschwörungstheorien, die wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage zu stellen meinen.
Der Zweifel ist die neue Religion. Man setzt sich über alles hinweg, was man in der (normalerweise hierzulande wissenschaftlich fundierten Schule) gelernt hat. Man sucht die Inspiration und das Anderssein in einer Art “In-Group” bei jenen, die vorgeben, mehr zu wissen als Andere. Wer wollte das nicht? Jeder will speziell sein. Jeder will sich noch wohler fühlen in einer Welt, in der er mehr weiss (oder zu wissen glaubt) als alle anderen. Doch wenn der Zweifel an den wissenschaftlichen Fakten zu einer Art Religion wird, dann hat das Folgen für die Gesellschaft. Nämlich dann, wenn eine kritische Masse an Faktenverleugnern erreicht ist. Zum Thema Verschwörungstheorien hier auch ein guter Beitrag von Hugo Stamm: “Menschen, die glauben, die Erde sei eine Scheibe – es gibt sie wirklich!”. Er spricht hier nicht nur von Flat-Earthers.
Viele Leute — auch in meinen Freidenker-Kreisen — lachen über solche Verschwörungstheorien. Natürlich sind die Theorien lachhaft! Das finde ich auch. Aber die Anhänger und Verbreiter der Theorien machen mir zunehmend Angst.
Steine im Getriebe: Das Ausbreiten solcher Verschwörungstheorien finde ich sehr alarmierend, denn diese kruden Geschichten sind auf Dauer nicht lustig, sondern sind Sand (oder eher Felsbrocken) im Getriebe der Entwicklung. Chemtrailanhänger, Impfverschwörung, Klimaerwärmungsleugner oder Flat-Earthers: Sie alle schaden der Gesellschaft massiv, indem sie immer mehr in ihren Bann ziehen. Die Menschheit steht im Moment vor ein paar grösseren Herausforderungen. Dazu gehören die Ungleichverteilung von Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung, aber auch der Klimawandel mitsamt der längerfristig unerlässlichen Abkehr von schädlichen oder unzureichend verfügbaren Energiequellen (Uran, Erdöl). Weiter geht es mit dem Umbruch im Arbeits- bzw. Lebensumfeld, bei dem immer mehr Jobs durch Robotik und künstliche Intelligenz wegzufallen drohen. Ich bin überzeugt davon, dass die Menschheit im Grunde über das Wissen verfügt, für diese Aufgaben praktikable Lösungen zu finden. Aber diese sind nur zu erreichen, wenn möglichst alle irgendwie mitziehen.
Wie will man aber gemeinsam über Lösungen diskutieren, wenn ein besonders laut schreiender Teil der Bevölkerung sogar einfach nachvollziehbare, wissenschaftlich x‑fach bewiesene Fakten in Frage stellt? Die Flat-Earthers sind ein Symptom für ein riesiges Problem, das der Lösung anderer (echter, noch grösserer) Probleme im Weg steht.
Die Erfinder und Verbreiter von Verschwörungstheorien regen die Menschen mit perfiden psychologischen Tricks dazu an, ihre Intelligenz (z.B. logisches Denken) nicht mehr zu benutzen. Darin finde ich nicht viel Lustiges. Es geht auch wahnsinnig viel Energie (und sei es bloss so etwas wie Aktivismuspotenzial) verloren, wenn man Menschen für kontraproduktive oder gar destruktive Angelegenheiten mobilisiert.